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Dienstag, 2. September 2014

Nostalgie in Kaugummi

<Fanfaren>

Die Kunstgalerie Wekeln präsentiert: 100 Meisterwerke.
Heute: "Der Verkaufsautomat", Aktionskunst, Skulptur aus Metall, hohl, Bundesrepublik Deutschland 1972.


<Avantgardistische Klaviermusik>

Ein sich verlegen in eine Hecke zurückziehend scheinender Kaugummiautomat in der ostfriesischen Provinz ist geneigt, beim Betrachter älteren Semesters wehmütige Erinnerungen an Cordhosen mit Schlag, an "Das feuerrote Spielmobil" sowie an die Sturmklingel am bandumwickelten Fahrradlenker auszulösen. An eine Zeit, als Vater Staat sein Volk in allen Bereichen des Lebens liebevoll umsorgt: Die Bundesbahn fährt mit ihren letzten Dampfzügen auch bei dem vom holländischen Showmaster besungenen und von der SPD verschuldetem schlechten Wetter unpünktlich, während der Bundespostbeamte dem Bundesbürger nach nur wenigen Monaten Wartezeit das angemietete nikotingraue Wählscheibentelefon installiert. Und natürlich nur unter der Voraussetzung, dass dieser Fernsprechteilnehmer in spe kein KPD-Parteibuch besitzt. An den mit Kopfstein gepflasterten Straßen stehen zahlreiche gelbe Telefonzellen, auf deren blanken Scheiben freundlich mit den Slogans "Fasse Dich kurz!" und prärechtschreibreformiert "Vergißmeinnicht die Postleitzahl" geworben wird; betritt man eine dieser Zellen, so findet man im Innern mehrere dicke, schwere Telefonbücher sowie einen noch schwereren schwarzen Hörer, den eine unsichtbare Aura aus purem Zeitgeist vor schnurloser Verwendung schützt. Neben der gelben Zelle hängt ein ebenso gelber Kasten: Die in diesen eingeworfenen Briefe werden nach nur wenigen Tagen Laufzeit vom Postbeamten zuverlässig zugestellt, sofern Tante Elli aus Karl-Marx-Stadt das Schreiben, in dem sie recht herzlich für das letzte Paket Bohnenkaffee dankt, nicht grob fahrlässig mit der Marke "10 Jahre Antifaschistischer Schutzwall" frankiert.

In dieser schönen Zeit wird unser Verkaufsautomat aufgestellt, als es im Röhrenfernseher nur die drei Kanäle mit quotenfreiem Bildungsauftrag und nächtlichem Testbild gibt, als das in fluoreszierenden Farben angebotene Eis noch mit dem Qualitätsmerkmal "Garantiert ohne natürliche Zutaten" beworben wird, als hutbewehrte Kraftfahrer noch ungefiltert die Extraportion Blei aus dem Kreiskolbenmotor des vor ihnen so unerwartet bremsenden Ro 80 schnuppern und sich beim anschließenden Aufprall auf das Lenkrad noch als echte Männer beweisen dürfen. In den Anfangstagen des Automaten, noch frisch in den lockenden Warnfarben Rot und Weiß lackiert, sind regelmäßige Befüllungen aus dem Bauch eines eierschalenbeigen Hanomag-Henschel-Lieferwagens mit Norder Kennzeichnen zu beobachten. Nachdem die nahe Schulklingel hell und laut das Ende des Unterrichts verkündet hat, füttern Lederranzen tragende Grundschüler den Automaten aus Brustbeuteln heraus mit 5- und 10-Pfennig-Stücken, um an den in lokaler Mundart "Schlickersachen" genannten Inhalt zu gelangen - dem gerechten Lohn für das kräftezehrende Drehen der Kunststoffkurbel und dem von einem leisen Quietschen begleiteten Öffnen der silbernen Klappe, welche hernach mit einem schnellen, satten "Klack!" zufällt.

Je mehr Jahre vergehen, desto seltener werden dem Automaten Münzen zugesteckt, desto seltener wird er befüllt. Doch was der Mensch vernachlässigt, weckt das Interesse der Natur: In diesem Wissen dürfen wir heute dem Ringen der Hecke beiwohnen, welche den Verlockungen des süßen Verkaufssortiments erlegen ist und ihre grünen Ranken wie Finger nach dem Inhalt ausstreckt; ein Unterfangen, welches der Arbeit des Sisyphos gleich vergebens ist. Schuld ist - wie so oft - der Mensch: Die Heckenschere des Besitzers eines angrenzenden Gastronomiebetriebs weiß es sicherlich auch diesmal zu verstehen, den Drang des nimmersatten Grüns in Richtung der so verheißungsvollen Öffnungen des Verkaufsautomaten zu beenden, indem sie der Hydra mit einem metallischen Klicken unbarmherzig die Köpfe abtrennt. Bei genauerem Blick werden die noch frischen Narben im umgebenden Gestrüpp sichtbar, die verbotene Neugier des zuckersüchtigen Strauches wurde mit schmerzhaften Wunden bestraft. Dem Betracher erscheint dies unfair, war es doch die schützende Hecke, welche den Automaten einst vor den bebrillten Argusaugen des lokalen Schrottsammlers verbarg.

Erst vor wenigen Jahren wurde der Automat überraschend aus seinem Dornröschenschlaf geweckt, als im Zuge des anekdotenreichen Wettbewerbs "Unser Dorf soll schöner werden" der Prinz in Gestalt der Heckenschere  erschien. Denkmalpflege und Ökonomie führten zur Inflationsangleichung der Münzmechanik, während der Inhalt dem Zeitgeist angepasst wurde: Das Tragen eines der "echten Mini-Taschenmesser" aus Fach 3 ermöglicht dem Delinquenten nach ehrlichem Einwurf eines 10 Cent-Stücks die unehrliche Aneignung eines kaum getragenen Paars Nike Air Max - selbstverständlich aus der limitierten Sammleredition. Die mit dem Verkaufssortiment zu erzielende Wertschöpfung erfüllt damit höchste Ansprüche und darf zweifellos als zukunftssicher bezeichnet werden. In weiser Voraussicht wird der kostbare, mit je 50 Cent bepreiste Inhalt des Fachs 1 durch ein Drahtgeflecht vor dem Vandalismus der heutigen Zeit verborgen, während Fach 2 den anglophonen Heranwachsenden mit der so verheißungsvollen Ankündigung "Center Shock" lockt.

Die Lackierung des Automaten ist hingegen zur Freude des Kunstliebhabers im Laufe der vergangenen vier Dekaden nicht erneuert worden: UV-Licht und Verwitterung durften somit ungezügelt ihre verderbliche Kreativität unter Beweis stellen, ergänzt um die mysteriösen Keilschriften pubertierender Pennäler. Die einst so kräftige rote Farbe des Rahmens musste einer neuen Farbschöpfung, vorläufig noch ohne RAL-Normierung, weichen. Die weiße Farbe, welche die Zeiten unverändert überdauert hat, besteht im Gegensatz dazu aus einem Chemiecocktail, dem heutzutage jegliche Möglichkeit auf eine Zulassung abgesprochen werden muss.

<Dramatische Klaviermusik>

Doch letzten Endes wird die Natur eines Tages obsiegen: In den Tagen der Apokalypse - möglicherweise ausgelöst durch die in ihrer Stringenz noch unreifen Bedienvorgänge des im Kernkraftwerk Rysumer Nacken voluntierenden Praktikanten Patrick B. und der in der Kausalkette folgenden Kernschmelze - wird auch die emsige Heckenschere ihren Dienst quittieren, der Verkaufsautomat daraufhin für alle Ewigkeit im Schlund des berankten Organismus - oder wahlweise eines mutierten Wiedergängers - verschwinden.

<Leichtes Geklimper, Klaviermusik verstummt>

Sonntag, 31. August 2014

Das Pumpenhaus, oder: Die Reise des Hinnerk L.

"Lauf nicht fort, schau im Ort." Dieser schöne Leitspruch, welchen Landwirt Alfons T. bereits 1832 seinem Sohn Karl mit auf den Weg gab, als dieser in die kurkölnische Provinz ausziehen wollte, um dort nach einer für ihn geeigneten Braut Ausschau zu halten, soll auch Motto unseres heutigen Beitrags sein; jedoch nicht, ohne zuvor nicht verleugnen zu wollen, dass Karl T. - den Ratschlag seines Vaters beherzigend - den Rest seines Lebens in fröhlicher Liaison mit dem ortsansässigen Stellmacher Ernst W. verbrachte. Wir unterziehen indes ein altehrwürdiges Gemäuer, in der niederrheinschen Heimat des Autors gelegen und von Einheimischen meist "Wasserwerk" genannt, einer genaueren Betrachtung.

<Fanfaren>

Die Kunstgalerie Wekeln präsentiert: 100 Meisterwerke.
Heute: "Das Pumpenhaus", Ruine aus Backstein, Deutsches Reich 1917.


<Avantgardistische Klaviermusik>

Wir befinden uns an Bord des vor wenigen Minuten gestarteten Airbus A321 des Fluges TT0815 "Düsseldorf - Larisa" der spanischen Billigfluglinie TIA, wo der Leeraner Pauschalreisende Hinnerk L., von Amts wegen leitender Angesteller der Meierei Poppinga & Co., soeben von seinem beengten Fensterplatz in die Tiefen der niederrheinischen Landschaft blickt. "Klaus, kiek eben, wi sünt schon all in Griechenland!" Sein erstaunter Ausruf soll uns an dieser Stelle dazu einladen, den nun einsetzenden Überlegungen seines Kegelbruders und Sitznachbarn Klaus K. zu folgen. Welchen Ursprungs war der gewagte Irrglaube, so kurz nach Überfliegen des Rheins den fernen Urlaubsort Sotiritsa erreicht zu haben? Lag es an der noch reifenden Ortskenntnis des Herrn L., der zum ersten Mal die flachen Weiten seiner ostfriesischen Heimat verlassen hat? Oder lag es an der Flasche Genever, welche man noch vor Antritt der Fahrt zum Düsseldorfer Flughafen an einer freien Tankstelle in Weener erstand? Bereits bei Erreichen der südlichen Haarnadelkurve Dreieck Bottrop der AVUS-gleichen Autobahn A31 hatte der von Klaus K. chauffierte Hinnerk betrübt feststellen müssen, dass das holländische Destillat zu Neige gegangen war.

So wie Hinnerk L. ergeht es vermutlich jedem der von Düsseldorf aus in westlicher Richtung aufbrechenden Flugreisenden: Beim Ausblick aus luftiger Höhe wird das fragile Ensemble des Willicher Gewerbeparks Stahlwerk Becker allzu leicht verwechselt mit den Ruinen des antiken Olympia, und der Tourist wähnt sich bereits im gewagten Landeanflug auf die kargen Sandpisten Südeuropas. Tatsächlich, die mit stetigem Verfall zunehmende Ähnlichkeit der alten Willicher Gemäuer mit historischen Kunststätten ist frappierend - und gleichwohl beabsichtigter Reifeprozess: Tief bewegt begreift der dankbare Kunstliebhaber, dass hier dem glühenden Vorbild Edvard Munchs nachgeeifert wird, der seine Bilder in der späten Periode seines Schaffens offen der Witterung aussetzte; die Natur als kreativer Schöpfer und zugleich unerbittlicher Vernichter - welch kühnes Unterfangen!


<Malagueña>

An Bord des Fluges TT0815 wird derweil allen Passagieren auf ihren Bildschirmen im Rahmen des spanischsprachigen Unterhaltungsprogramms Steven Spielbergs Epos "E.T., el extraterrestre" gezeigt. Der den Film übertrieben heiter verfolgende Fachmann für Milchprodukte Hinnerk L. entscheidet sich soeben, bei der vorbeieilenden Stewardess Estefana M. eine Flasche Doornkaat erwerben zu wollen. Ein Mangel an Fremdsprachkenntnissen auf beiden Seiten führt jedoch zu einem bedauerlichen Missverständnis, als L. im Laufe des Versuchs, neue Wege der Kommunikation zu beschreiten, niederdeutsche Mundart mit allzu zweideutiger Zeichensprache kombiniert. Das Resultat bereichert die Welt nicht um das erhoffte neue Esperanto, sondern endet in einem Handgemenge, dessen Leidtragender der zwischen den Duellanten sitzende Klaus K. ist; K. sinnt gerade darüber nach, ob er nicht - anstatt Hinnerk L. zu begleiten - lieber mit der promiskuitiven Telefonistin Hilke F. in den nahen Ferienpark hätte fahren sollen. Doch diese äußerst reizvollen Überlegungen an entgangene Verlockungen werden jäh unterbrochen, als der um ihn herum tobende Kampf endet, indem im Zuge des ausgehandelten Waffenstillstands statt des ersehnten Doornkaats eine Flasche Mariacron zum wohlfeilen Preis von 25 € den Besitzer wechselt. Hinnerk L. lehnt sich stolz zurück, um seine Neuerwerbung gebührend willkommen zu heißen. Noch ermattet vom Ringen mit der so gar nicht polyglotten Flugbegleiterin entgleitet er in ein vom Succubus namens Genever befeuertes Reich der Träume, welches in Personalunion vom antiken griechischen Olympia sowie einem der Gravitation entsagenden BMX-Fahrrad beherrscht wird.

<Klaviermusik>

Im Rahmen einer Spurensuche zu unserem Meisterwerk treffen wir in Meerbusch-Osterath den letzten noch lebenden Angestellten der Stahlwerke Becker AG, den Rentner Erwin K., in seiner Kleingartenlaube. K. weiß nach stolzer Vorstellung seiner Kaninchen- und Cannabis-Zucht zu berichten, dass sein Arbeitgeber einen Teil des postapokalyptischen Ensembles im Jahr 1917 als Wasserturm, den anderen, von uns betrachteten Teil, 1918 als Pumpenhaus errichten ließ. Die Vermutung, der einstmals neoklassizistische Bau sei der Werkschau des alten Meisters Karl Friedrich Schinkel zuzuordnen, muss der Erkenntnis weichen, dass der Architekt des Baus an dieser Stelle unerkannt bleiben wird. Die Neugier hingegen bleibt: War es eine Bauunternehmung aus der Kreisstadt Kempen, welche unser Pantheon unter Einsatz einer Demag-Dampframme und Regel-3-Tonnern erschuf? Rentner Erwin K. zeigt sich derweil tief gerührt angesichts des für seine bereitwillige Auskunft erhaltenen Obolus; er kann jeden Cent gebrauchen, seit sich die wohlgemeinte Entscheidung, seinem Urenkel einen Mobilfunkvertrag zu schenken, als eine fortwährende Belastung der knappen Rentenkasse herausgestellt hat. Der rührige Kleingärtner entlässt den Besucher nicht nur mit warmen Worten und einer Flasche Uerdinger Doppelwacholder, sondern gibt auch eine frische Kaninchenkarkasse sowie den eindringlich geäußerten Wunsch mit auf den Weg, nach seinem auberginenfarbenen Opel Kadett E und dem darin befindlichen Urenkel Martin C. Ausschau zu halten.

<Dramatische Klaviermusik>

Um die Intention des betrachteten Gemäuers mit dem so funktionalen Namen Pumpenhaus verstehen zu können, müssen wir im Luftschloss unserer Gedanken eine Reise in die vermeintlich so gute alte Zeit, in das Jahr 1917, unternehmen: In Willich weiht die vom munteren Geschehen an Ost- und Westfront profitierende, außerordentlich erfolgreiche Stahlwerke Becker AG ihr neues Blechwalzwerk mitsamt der zugehörigen Wasserversorgung ein. Als wertvollen Beitrag zum Krieg hat man pünktlich zu dessen Beginn die Becker-Kanone entwickelt, einem Produkt, welches offensiv auf den Markt und die soeben eröffneten Schlachtfelder gebracht wird. Im gleichen Maße, wie die Gebeinhäuser gefüllt werden, füllen sich die Auftragsbücher. Aus humoristischer Perspektive ist dieser Epoche nichts abzugewinnen, somit soll unser Exkurs in die Entstehungszeit hier enden.


Unser Meisterwerk wurde seines Auftrags zum Wassertransport mit der Stilllegung der Produktion am 1. Oktober 1930 erstmals beraubt; der Konkurs machte dem Stahlwerk nach schwierigen Jahren am 5. April 1932 - die älteren Leser mögen sich vielleicht noch erinnern, dass es an dem Dienstag gegen 9 Uhr morgens zu regnen begann - den endgültigen Garaus. Die neue Leitung des Deutschen Reichs entschloss sich jedoch bereits ein Jahr später, die heimische Wirtschaft für die geplante Wiederholung des verlorenen Weltkriegs vorzubereiten; somit wurde das Stahlwerk mitsamt Pumpenhaus 1934 überraschend von Thyssen Edelstahl gepachtet und reaktiviert, 1939 sogar vollständig übernommen; wieder wurde für die Rüstung produziert. 1945 war aber nicht nur im Stahlwerk, sondern auch in ganz Deutschland endgültig Schluss. Das Licht erlosch, nachdem die Stromrechnung des Reiches ohnehin seit 1933 nicht mehr bezahlt worden war. Ab 1948 gelangte das Stahlwerksgelände, nachdem ein Großteil der Anlagen demontiert worden war, in den Besitz einer britischen Pioniereinheit, welche 1993 zwar auf das britische Eiland zurückkehrte, das Pumpenhaus aber aus unverständlich bleibenden Gründen zurückließ.

<Adagio>

Obgleich einige Mäzene mehrfach Interesse an einer Restaurierung bekundet haben, ist das Gebäude seither dem Verfall preisgegeben. Betrachten wir das Werk im heutigen Zustand eingehender, entdecken wir liebevolle Details, welche zuvor im Verborgenen geblieben sind: So weiß das einst kunstfertig gedeckte Dach heute in seiner morbiden Luftigkeit zu faszinieren und sogar die von Sir Norman Foster entworfene, von Licht durchflutete Kuppel des Reichstags in den Schatten zu stellen! Die ökologische Dachbegrünung ist Relikt eines erfolglosen Versuchs des Meerbuscher Rentners Erwin K., an dieser exponierten Stelle eine Cannabis-Zucht zu etablieren. Das zentrale Element Wasser des Meisterwerks bleibt hingegen vom nagenden Zahn der Zeit unangetastet: Die rostroten Reste alter Kessel, deren Inhalt einst die Walzstraße mit kühlem Nass versorgte, werden von dem aus Wolken und Vögeln fallenden Regen ungehindert benetzt; noch wurden die Kessel nicht auf dem Rücken eines unheilvoll von elektronischem Glockenspiel angekündigten Pritschenwagens vom Typ Mercedes Sprinter zum Schneidbrenner transportiert, um im Fegefeuer eines chinesischen Konverters erneut in den globalen Kreislauf des metallischen Daseins eingebracht zu werden.


Eine letzte Beobachtung bleibt uns vergönnt: Seit einigen Monden geschieht Unheimliches im Schatten des alten Gemäuers, welches dem Nichteingeweihten Rätsel auferlegt. Fortwährend halten in den angrenzenden Parkbuchten Kraftfahrzeuge, verweilen einige Zeit und entfernen sich vermeintlich unverrichteter Dinge, ohne dass der Schlag geöffnet wurde. Kundige Beobachter wähnen sich bereits im Milieu des Rotlichts; der einem Zuckerguss gleich die Ruine bekrönende frische Taubenkot beweist hingegen, dass die hier heimische Vogelwelt der Bordsteinschwalbe keinen Raum gewährt. Ist womöglich Okkultes im Gange? Mit diesem Gedanken ist der Beobachter auf der richtigen Fährte, denn die Auflösung des Mysteriums zeigt sich erst im Digitalen: Der Nutzer virus0815, ein nur selten außerhalb der Netzwelt unter dem Namen Arne U. anzutreffender Informatikstudent im 18. Semester, errichtete hier einst inmitten der alten Kessel ein virtuelles Portal, welches als Anlaufstelle für das Spiel Ingress der so fernen kalifornischen Internetunternehmung Google dient. Sinn und Regeln dieses Zeitvertreibs bleiben dem Betrachter verborgen, aber das Verhalten der Spieler lässt vorsichtige Rückschlüsse zu.

So erblicken wir heute zum wiederholten Male einen auberginenfarbenen Kadett E mit Neusser Kennzeichen, welcher, neben dem Fahrer Martin C. alias Scharfenberg mit drei weiteren Personen besetzt, in der Parkbucht hält. Die vier Teilzeitstudenten der Hochschule Niederrhein beugen sich verzückt über ihre portablen Telefonapparate, die bleichen Antlitze beleuchtet vom Glimmen elektronischer Anzeigen, die Finger gebannt zuckend über die Oberfläche der grafischen Benutzerschnittstelle, bis das Werk vollbracht ist: Das Portal "Alte Fabriken" wurde für die grüne Fraktion erobert, seine Resonatoren auf Level 7 gebracht! Der hinter der Heckscheibe des Opels platzierte Plastikdackel wackelt zu diesen ruhmreichen Heldentaten anerkennend mit dem Kopf, während die danebenstehende, mit einer Häkeldecke verzierte Klorolle keinerlei erkennbare Gefühlsregung zeigt. Niemals zuvor erschienen die Segnungen der digitalen Welt verlockender als in diesem Moment! Unser 1917 entstandenes Kunstwerk ist in der Moderne angekommen, während Martin C. und seine Gefährten im Kadett E zum nächsten Ziel aufbrechen.


Ob Hinnerk L. letzten Endes das Glück beschieden war, bleibt im Dunkeln. Am Berg Korab, in einem der Kleinbunker des Enver Hoxha, verliert sich die letzte Spur des Leeraner Meiereiangestellten, der nach einer eigens für ihn eingelegten Zwischenlandung des Airbus auf dem Flughafen von Tirana freundlich, aber bestimmt von Bord gebeten wurde. Hinnerk L. war es zuvor nach Genuss einer größeren Menge Mariacron gelungen, das ungeteilte Interesse der Mitreisenden zu wecken, indem er sich in einer Flughöhe von 32000 Fuß mit bewundernswertem Enthusiasmus an der hinteren Backbordtür zu schaffen machte. Mit größtem Bedauern müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass Flugkapitän Francesco I. und seine iberische Crew das kühne Vorhaben des Hinnerk L., auf dem mit Cateringprodukten gespickten Rücken des Servierwägelchens über die Wolken reiten und so den Gott Helios im Sonnenwagen lobpreisen zu wollen, nicht wohlwollend unterstützte. Aus diesem Grund muss die bereits großformatig in den Gazetten angekündigte Sonderbeilage "Aktionskunst des Hinnerk L.: Häwelmann, Phaeton, E.T." leider entfallen.

Doch es gibt auch gute Nachrichten zu vermelden, denn möglicherweise gibt es ein Lebenszeichen des vermissten Hinnerk L.: In einem Bericht des amerikanischen Geheimdienstes CIA, welcher sich in einem unbeachtetet gebliebenen Teil der Unterlagen des Whistleblowers Edward Snowden fand, wird der jüngst eingetretene Aufschwung der albanischen Agrarproduktion auf die Einfuhr schwarzbunten Hochleistungsmilchviehs aus Ostfriesland zurückgeführt.

<Leichtes Geklimper, Klaviermusik verstummt>