Sonntag, 31. August 2014

Das Pumpenhaus, oder: Die Reise des Hinnerk L.

"Lauf nicht fort, schau im Ort." Dieser schöne Leitspruch, welchen Landwirt Alfons T. bereits 1832 seinem Sohn Karl mit auf den Weg gab, als dieser in die kurkölnische Provinz ausziehen wollte, um dort nach einer für ihn geeigneten Braut Ausschau zu halten, soll auch Motto unseres heutigen Beitrags sein; jedoch nicht, ohne zuvor nicht verleugnen zu wollen, dass Karl T. - den Ratschlag seines Vaters beherzigend - den Rest seines Lebens in fröhlicher Liaison mit dem ortsansässigen Stellmacher Ernst W. verbrachte. Wir unterziehen indes ein altehrwürdiges Gemäuer, in der niederrheinschen Heimat des Autors gelegen und von Einheimischen meist "Wasserwerk" genannt, einer genaueren Betrachtung.

<Fanfaren>

Die Kunstgalerie Wekeln präsentiert: 100 Meisterwerke.
Heute: "Das Pumpenhaus", Ruine aus Backstein, Deutsches Reich 1917.


<Avantgardistische Klaviermusik>

Wir befinden uns an Bord des vor wenigen Minuten gestarteten Airbus A321 des Fluges TT0815 "Düsseldorf - Larisa" der spanischen Billigfluglinie TIA, wo der Leeraner Pauschalreisende Hinnerk L., von Amts wegen leitender Angesteller der Meierei Poppinga & Co., soeben von seinem beengten Fensterplatz in die Tiefen der niederrheinischen Landschaft blickt. "Klaus, kiek eben, wi sünt schon all in Griechenland!" Sein erstaunter Ausruf soll uns an dieser Stelle dazu einladen, den nun einsetzenden Überlegungen seines Kegelbruders und Sitznachbarn Klaus K. zu folgen. Welchen Ursprungs war der gewagte Irrglaube, so kurz nach Überfliegen des Rheins den fernen Urlaubsort Sotiritsa erreicht zu haben? Lag es an der noch reifenden Ortskenntnis des Herrn L., der zum ersten Mal die flachen Weiten seiner ostfriesischen Heimat verlassen hat? Oder lag es an der Flasche Genever, welche man noch vor Antritt der Fahrt zum Düsseldorfer Flughafen an einer freien Tankstelle in Weener erstand? Bereits bei Erreichen der südlichen Haarnadelkurve Dreieck Bottrop der AVUS-gleichen Autobahn A31 hatte der von Klaus K. chauffierte Hinnerk betrübt feststellen müssen, dass das holländische Destillat zu Neige gegangen war.

So wie Hinnerk L. ergeht es vermutlich jedem der von Düsseldorf aus in westlicher Richtung aufbrechenden Flugreisenden: Beim Ausblick aus luftiger Höhe wird das fragile Ensemble des Willicher Gewerbeparks Stahlwerk Becker allzu leicht verwechselt mit den Ruinen des antiken Olympia, und der Tourist wähnt sich bereits im gewagten Landeanflug auf die kargen Sandpisten Südeuropas. Tatsächlich, die mit stetigem Verfall zunehmende Ähnlichkeit der alten Willicher Gemäuer mit historischen Kunststätten ist frappierend - und gleichwohl beabsichtigter Reifeprozess: Tief bewegt begreift der dankbare Kunstliebhaber, dass hier dem glühenden Vorbild Edvard Munchs nachgeeifert wird, der seine Bilder in der späten Periode seines Schaffens offen der Witterung aussetzte; die Natur als kreativer Schöpfer und zugleich unerbittlicher Vernichter - welch kühnes Unterfangen!


<Malagueña>

An Bord des Fluges TT0815 wird derweil allen Passagieren auf ihren Bildschirmen im Rahmen des spanischsprachigen Unterhaltungsprogramms Steven Spielbergs Epos "E.T., el extraterrestre" gezeigt. Der den Film übertrieben heiter verfolgende Fachmann für Milchprodukte Hinnerk L. entscheidet sich soeben, bei der vorbeieilenden Stewardess Estefana M. eine Flasche Doornkaat erwerben zu wollen. Ein Mangel an Fremdsprachkenntnissen auf beiden Seiten führt jedoch zu einem bedauerlichen Missverständnis, als L. im Laufe des Versuchs, neue Wege der Kommunikation zu beschreiten, niederdeutsche Mundart mit allzu zweideutiger Zeichensprache kombiniert. Das Resultat bereichert die Welt nicht um das erhoffte neue Esperanto, sondern endet in einem Handgemenge, dessen Leidtragender der zwischen den Duellanten sitzende Klaus K. ist; K. sinnt gerade darüber nach, ob er nicht - anstatt Hinnerk L. zu begleiten - lieber mit der promiskuitiven Telefonistin Hilke F. in den nahen Ferienpark hätte fahren sollen. Doch diese äußerst reizvollen Überlegungen an entgangene Verlockungen werden jäh unterbrochen, als der um ihn herum tobende Kampf endet, indem im Zuge des ausgehandelten Waffenstillstands statt des ersehnten Doornkaats eine Flasche Mariacron zum wohlfeilen Preis von 25 € den Besitzer wechselt. Hinnerk L. lehnt sich stolz zurück, um seine Neuerwerbung gebührend willkommen zu heißen. Noch ermattet vom Ringen mit der so gar nicht polyglotten Flugbegleiterin entgleitet er in ein vom Succubus namens Genever befeuertes Reich der Träume, welches in Personalunion vom antiken griechischen Olympia sowie einem der Gravitation entsagenden BMX-Fahrrad beherrscht wird.

<Klaviermusik>

Im Rahmen einer Spurensuche zu unserem Meisterwerk treffen wir in Meerbusch-Osterath den letzten noch lebenden Angestellten der Stahlwerke Becker AG, den Rentner Erwin K., in seiner Kleingartenlaube. K. weiß nach stolzer Vorstellung seiner Kaninchen- und Cannabis-Zucht zu berichten, dass sein Arbeitgeber einen Teil des postapokalyptischen Ensembles im Jahr 1917 als Wasserturm, den anderen, von uns betrachteten Teil, 1918 als Pumpenhaus errichten ließ. Die Vermutung, der einstmals neoklassizistische Bau sei der Werkschau des alten Meisters Karl Friedrich Schinkel zuzuordnen, muss der Erkenntnis weichen, dass der Architekt des Baus an dieser Stelle unerkannt bleiben wird. Die Neugier hingegen bleibt: War es eine Bauunternehmung aus der Kreisstadt Kempen, welche unser Pantheon unter Einsatz einer Demag-Dampframme und Regel-3-Tonnern erschuf? Rentner Erwin K. zeigt sich derweil tief gerührt angesichts des für seine bereitwillige Auskunft erhaltenen Obolus; er kann jeden Cent gebrauchen, seit sich die wohlgemeinte Entscheidung, seinem Urenkel einen Mobilfunkvertrag zu schenken, als eine fortwährende Belastung der knappen Rentenkasse herausgestellt hat. Der rührige Kleingärtner entlässt den Besucher nicht nur mit warmen Worten und einer Flasche Uerdinger Doppelwacholder, sondern gibt auch eine frische Kaninchenkarkasse sowie den eindringlich geäußerten Wunsch mit auf den Weg, nach seinem auberginenfarbenen Opel Kadett E und dem darin befindlichen Urenkel Martin C. Ausschau zu halten.

<Dramatische Klaviermusik>

Um die Intention des betrachteten Gemäuers mit dem so funktionalen Namen Pumpenhaus verstehen zu können, müssen wir im Luftschloss unserer Gedanken eine Reise in die vermeintlich so gute alte Zeit, in das Jahr 1917, unternehmen: In Willich weiht die vom munteren Geschehen an Ost- und Westfront profitierende, außerordentlich erfolgreiche Stahlwerke Becker AG ihr neues Blechwalzwerk mitsamt der zugehörigen Wasserversorgung ein. Als wertvollen Beitrag zum Krieg hat man pünktlich zu dessen Beginn die Becker-Kanone entwickelt, einem Produkt, welches offensiv auf den Markt und die soeben eröffneten Schlachtfelder gebracht wird. Im gleichen Maße, wie die Gebeinhäuser gefüllt werden, füllen sich die Auftragsbücher. Aus humoristischer Perspektive ist dieser Epoche nichts abzugewinnen, somit soll unser Exkurs in die Entstehungszeit hier enden.


Unser Meisterwerk wurde seines Auftrags zum Wassertransport mit der Stilllegung der Produktion am 1. Oktober 1930 erstmals beraubt; der Konkurs machte dem Stahlwerk nach schwierigen Jahren am 5. April 1932 - die älteren Leser mögen sich vielleicht noch erinnern, dass es an dem Dienstag gegen 9 Uhr morgens zu regnen begann - den endgültigen Garaus. Die neue Leitung des Deutschen Reichs entschloss sich jedoch bereits ein Jahr später, die heimische Wirtschaft für die geplante Wiederholung des verlorenen Weltkriegs vorzubereiten; somit wurde das Stahlwerk mitsamt Pumpenhaus 1934 überraschend von Thyssen Edelstahl gepachtet und reaktiviert, 1939 sogar vollständig übernommen; wieder wurde für die Rüstung produziert. 1945 war aber nicht nur im Stahlwerk, sondern auch in ganz Deutschland endgültig Schluss. Das Licht erlosch, nachdem die Stromrechnung des Reiches ohnehin seit 1933 nicht mehr bezahlt worden war. Ab 1948 gelangte das Stahlwerksgelände, nachdem ein Großteil der Anlagen demontiert worden war, in den Besitz einer britischen Pioniereinheit, welche 1993 zwar auf das britische Eiland zurückkehrte, das Pumpenhaus aber aus unverständlich bleibenden Gründen zurückließ.

<Adagio>

Obgleich einige Mäzene mehrfach Interesse an einer Restaurierung bekundet haben, ist das Gebäude seither dem Verfall preisgegeben. Betrachten wir das Werk im heutigen Zustand eingehender, entdecken wir liebevolle Details, welche zuvor im Verborgenen geblieben sind: So weiß das einst kunstfertig gedeckte Dach heute in seiner morbiden Luftigkeit zu faszinieren und sogar die von Sir Norman Foster entworfene, von Licht durchflutete Kuppel des Reichstags in den Schatten zu stellen! Die ökologische Dachbegrünung ist Relikt eines erfolglosen Versuchs des Meerbuscher Rentners Erwin K., an dieser exponierten Stelle eine Cannabis-Zucht zu etablieren. Das zentrale Element Wasser des Meisterwerks bleibt hingegen vom nagenden Zahn der Zeit unangetastet: Die rostroten Reste alter Kessel, deren Inhalt einst die Walzstraße mit kühlem Nass versorgte, werden von dem aus Wolken und Vögeln fallenden Regen ungehindert benetzt; noch wurden die Kessel nicht auf dem Rücken eines unheilvoll von elektronischem Glockenspiel angekündigten Pritschenwagens vom Typ Mercedes Sprinter zum Schneidbrenner transportiert, um im Fegefeuer eines chinesischen Konverters erneut in den globalen Kreislauf des metallischen Daseins eingebracht zu werden.


Eine letzte Beobachtung bleibt uns vergönnt: Seit einigen Monden geschieht Unheimliches im Schatten des alten Gemäuers, welches dem Nichteingeweihten Rätsel auferlegt. Fortwährend halten in den angrenzenden Parkbuchten Kraftfahrzeuge, verweilen einige Zeit und entfernen sich vermeintlich unverrichteter Dinge, ohne dass der Schlag geöffnet wurde. Kundige Beobachter wähnen sich bereits im Milieu des Rotlichts; der einem Zuckerguss gleich die Ruine bekrönende frische Taubenkot beweist hingegen, dass die hier heimische Vogelwelt der Bordsteinschwalbe keinen Raum gewährt. Ist womöglich Okkultes im Gange? Mit diesem Gedanken ist der Beobachter auf der richtigen Fährte, denn die Auflösung des Mysteriums zeigt sich erst im Digitalen: Der Nutzer virus0815, ein nur selten außerhalb der Netzwelt unter dem Namen Arne U. anzutreffender Informatikstudent im 18. Semester, errichtete hier einst inmitten der alten Kessel ein virtuelles Portal, welches als Anlaufstelle für das Spiel Ingress der so fernen kalifornischen Internetunternehmung Google dient. Sinn und Regeln dieses Zeitvertreibs bleiben dem Betrachter verborgen, aber das Verhalten der Spieler lässt vorsichtige Rückschlüsse zu.

So erblicken wir heute zum wiederholten Male einen auberginenfarbenen Kadett E mit Neusser Kennzeichen, welcher, neben dem Fahrer Martin C. alias Scharfenberg mit drei weiteren Personen besetzt, in der Parkbucht hält. Die vier Teilzeitstudenten der Hochschule Niederrhein beugen sich verzückt über ihre portablen Telefonapparate, die bleichen Antlitze beleuchtet vom Glimmen elektronischer Anzeigen, die Finger gebannt zuckend über die Oberfläche der grafischen Benutzerschnittstelle, bis das Werk vollbracht ist: Das Portal "Alte Fabriken" wurde für die grüne Fraktion erobert, seine Resonatoren auf Level 7 gebracht! Der hinter der Heckscheibe des Opels platzierte Plastikdackel wackelt zu diesen ruhmreichen Heldentaten anerkennend mit dem Kopf, während die danebenstehende, mit einer Häkeldecke verzierte Klorolle keinerlei erkennbare Gefühlsregung zeigt. Niemals zuvor erschienen die Segnungen der digitalen Welt verlockender als in diesem Moment! Unser 1917 entstandenes Kunstwerk ist in der Moderne angekommen, während Martin C. und seine Gefährten im Kadett E zum nächsten Ziel aufbrechen.


Ob Hinnerk L. letzten Endes das Glück beschieden war, bleibt im Dunkeln. Am Berg Korab, in einem der Kleinbunker des Enver Hoxha, verliert sich die letzte Spur des Leeraner Meiereiangestellten, der nach einer eigens für ihn eingelegten Zwischenlandung des Airbus auf dem Flughafen von Tirana freundlich, aber bestimmt von Bord gebeten wurde. Hinnerk L. war es zuvor nach Genuss einer größeren Menge Mariacron gelungen, das ungeteilte Interesse der Mitreisenden zu wecken, indem er sich in einer Flughöhe von 32000 Fuß mit bewundernswertem Enthusiasmus an der hinteren Backbordtür zu schaffen machte. Mit größtem Bedauern müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass Flugkapitän Francesco I. und seine iberische Crew das kühne Vorhaben des Hinnerk L., auf dem mit Cateringprodukten gespickten Rücken des Servierwägelchens über die Wolken reiten und so den Gott Helios im Sonnenwagen lobpreisen zu wollen, nicht wohlwollend unterstützte. Aus diesem Grund muss die bereits großformatig in den Gazetten angekündigte Sonderbeilage "Aktionskunst des Hinnerk L.: Häwelmann, Phaeton, E.T." leider entfallen.

Doch es gibt auch gute Nachrichten zu vermelden, denn möglicherweise gibt es ein Lebenszeichen des vermissten Hinnerk L.: In einem Bericht des amerikanischen Geheimdienstes CIA, welcher sich in einem unbeachtetet gebliebenen Teil der Unterlagen des Whistleblowers Edward Snowden fand, wird der jüngst eingetretene Aufschwung der albanischen Agrarproduktion auf die Einfuhr schwarzbunten Hochleistungsmilchviehs aus Ostfriesland zurückgeführt.

<Leichtes Geklimper, Klaviermusik verstummt>

Donnerstag, 28. August 2014

Der Wiederaufstieg

Die Zugehfrau Melitta Z. bezeichnete es im Nachhinein bitter als gewagtes Experiment, etwas Ernstes in humoristischer Form verarbeiten zu wollen, nachdem ihr der so reichhaltig gefüllte Putzeimer in der ersten Etage des eleganten Vorderhauses einer Mietskaserne entglitten war und sich daraufhin mitsamt Inhalt blechern polternd über den zuvor makellosen Stresemann des ahnungslos auf dem Trottoir flanierenden Kommerzienrats Wilhelm F. ergossen hatte. Die Herrschaften des Hauses zeigten später leider keinerlei Verständnis für die Eloquenz der so gerühmten Berliner Schnauze, mit welcher Fräulein Z. das Geschehene ohne Umschweife gegenüber den ebenfalls passierenden Gassenjungen kommentiert hatte, während der Begossene sich nach einem kurzen Moment des Erschreckens lauthals zu echauffieren begann.
Einen derartigen Versuch wollen wir heute ebenfalls wagen, um im Rahmen einer Retrospektive ein zweifelhaftes und gleichsam rätselbehaftetes Werk zu betrachten.

<Fanfaren>

Die Kunstgalerie Wekeln präsentiert: 100 Meisterwerke.
Heute: "Der Wiederaufstieg", Heimstofffarben auf Holz, völkisch-naiv, Deutsches Reich 1934.



<Avantgardistische Klaviermusik>

Ein altes Fachwerkhaus - gelegen im idyllischen Zentrum einer beschaulichen ostwestfälischen Kleinstadt - musste den Künstlern des Graffitos "Der Wiederaufstieg" als Leinwand dienen; die beiden Brüder Friedrich und Heinrich K. etablierten sich damit als Vorläufer der modernen Bewegung von Adoleszenten, welche die kargen Außenwände unserer Behausungen unentgeltlich mit willkommenen Motiven verzieren, deren Botschaften - "H.M.S.", "Ultra Karges Loch" oder auch "Thomas P. suckz" - zu dechiffrieren den Betrachter vor Aufgaben stellt, die sich in ihrer Undurchdringlichkeit nur mit den steinernen Relikten der einst auf den fernen Osterinseln lebenden Einwohner messen können. Rätsel dieses Schlags birgt auch das Graffito der Gebrüder.
"Umgebaut 1934..."
So verkündet stolz das Werk. Eine Information, die in ihrer präzisen Knappheit geradezu auf den Leser hereinstürmt, ihn besticht und gekonnt in den Bann zieht. Hätte die Botschaft des Werks, dessen äußere Gestalt mit den Worten "Fraktur in güldenen Lettern auf karminrotem Putz" schnell beschrieben ist, an dieser Stelle - womöglich ergänzt um die Signatur der Brüder - ein schnelles Ende gefunden, so wäre ein zeitgenössischer Betrachter, dankbar um eine so derart wichtige Information wie dem Jahr der nicht näher spezifizierten Baumaßnahmen bereichert, verwundert von dannen gezogen, um sich möglicherweise in der Hinterstube eines nahegelegenen Wirtshauses konspirativ mit gleichgesonnenen Widerständlern zu treffen. Doch Friedrich und Heinrich K. hatten mehr im Sinn, als sie ihr Werk schufen:
"15 Jahre nach dem Kriege..." 
Ungleich schwerer als dem modernen Besucher der Ausstellungsstätte, welcher stets seinen mit Omniszienz gesegneten mobilen Telefonapparat mit sich führt, muss es Lesern der damaligen Zeit gefallen sein, diese Chiffre zu entschlüsseln. Die zu diesem Zweck einsetzbaren mechanischen Rechenmaschinen aus Braunschweig waren ihren modernen elektronischen Äquivalenten - obgleich kühn als Gehirne aus Stahl offeriert - oftmals unterlegen; und eine Berechnung will an dieser Stelle angestellt sein: "15 Jahre nach dem Kriege" - der kundige Betrachter wird mit den ersten rätselhaften Worten des Werks eingeladen, es Carl Friedrich Gauß und Adam Riese gleichzutun, um den Zeitraum des 1934 stattgefundenen Umbaus mittels Addition weiter einzugrenzen. 15 Jahre nach dem Waffenstillstand von Compiègne muss er stattgefunden haben, somit zwischen dem 18. November 1933 und dem 17. November 1934, wie der Pennäler Hugo S. - eifrig den Leistungskurs Geschichte des humanistischen Gymnasiums besuchend - unserem Exkurs freudig beizusteuern weiß. Letzten Endes bleibt dem Betrachter angesichts des dürftigen Resultats nur die bestürzte Erkenntnis, dass der Hinweis auf das Ende des Krieges redundant ist, und somit womöglich obskurer Bestandteil einer subtileren Botschaft der Künstler.
"...und im 2. Jahre des großen Wiederaufstiegs..."
Das zentrale Thema des Werks ist nun endlich erreicht und verspricht Klarheit in die noch offene Frage der Intention zu bringen. Es wird ein großer Wiederaufstieg beschrieben, welcher weniger als zwei Jahre zuvor begann. Das Elektronenhirn leistet Hilfestellung, kalkuliert in flotter Subtraktion in Bits und Bytes, um mit einem fröhlichem Pling das Ergebnis auszuspucken:
1934 - 1 = 1933
Der Beginn des Wiederaufstiegs wird somit auf das zunächst so ereignislos scheinende Jahr 1933 festgelegt. Dies macht den Versuch, die Natur des Prozesses "Wiederaufstieg" festzulegen, keinesfalls einfacher. Was passierte im Jahre 1933 an der schönen Weser, welches einer solchen Umschreibung würdig gewesen wäre? Entsann sich nicht gerade in diesem Jahre der Böttchergeselle Erwin K. zum ungeschickten Umgang mit den Seilen eines im Zuge von Propagandamaßnahmen eingesetzten Fesselballons, welcher zu einem tragischen Unfall im Laufe des nun so unerwartet eintretenden Wiederaufstiegs des zuvor auf dem Marktplatz vermeintlich sicher verzurrten Ballons, besetzt durch die angetrunkene lokale Parteispitze, führte?

Solcherlei Überlegungen erscheinen an dieser Stelle wenig zielführend. Der Wiederaufstieg wird als ein seit beinahe zwei Jahren währender Prozess beschrieben, zudem handelt es um einen betont "großen Wiederaufstieg", möglicherweise bewusst unter Missachtung geltender Regeln mit einem zweifachen runden s anstatt zweifachem langen s geschrieben; er ist somit nicht zu verwechseln mit dem weitläufig bekannten "kleinen Wiederaufstieg", wie ihn beispielsweise Rentnerin Berta G. oft auf ihrem hölzernen Küchentritt auszuüben pflegt, um die penibel markierten und mit rotem Gummiband bewehrten Weckgläser mit eingemachter Schlehenmarmelade auf das oberste Bord der Speisekammer befördern zu können.

<Tumbes Trommelgrollen>

Spätestens jetzt wird dem Betrachter klar, dass die Gebrüder - möglicherweise infolge übermäßigen Alkoholkonsums im Laufe eines Besuchs des so nahe der Weserstadt abgehaltenen Reichserntedankfests - auf die Bewegung des als solcher so erfolglosen Malers Adolf H. anspielen, welcher in besagtem Jahr mit einer Schar Gesinnungsgenossen Fackeln und Fahnen tragend durch ein Stadttor der fernen Hauptstadt zog, und somit den in seiner Profession weitaus erfolgreicheren und an eben diesem Tor wohnhaften Maler Max Liebermann in Betrachtung der Geschehnisse - des "großen Wiederaufstiegs" - den so treffenden Ausruf entlockte:
„Ick kann jar nich soville fressen, wie ick kotzen möchte."
<Stille>

Diesen Worten ist auch heute nichts hinzuzufügen. Ob das Kunstwerk den Gebrüdern K. Glück brachte, ist nicht überliefert. Der "große Wiederaufstieg" dauerte nicht die angedrohten tausend Jahre, öffnete hingegen die Büchse der Pandora über Europa. Darob muss jeder Humor versagen.

Mittwoch, 27. August 2014

Die Personenwaage


Erst kürzlich versprach ich, über eine öffentliche Personenwaage zu berichten, welche in der österreichischen Donaumetropole zu finden ich das Glück besaß. Nach solch gestelztem Wortlaut folgt nun ohne weitere Umschweife der versprochene Artikel.

 <Fanfaren>

Die Kunstgalerie Wekeln präsentiert: 100 Meisterwerke.
Heute: "Die Personenwaage", Farbfoto, Canon Powershot S5, ISO 400, Österreich 2014.

<Avantgardistische Klaviermusik>
"Bitte nur einzeln betreten."
Diese mahnenden Worte könnte ein wohlgesonnener Betrachter ihr, der dem flachen Kalauer vielleicht gar nicht abgeneigten öffentlichen Personenwaage, welche an der Doppelhaltestelle "Kärntner Ring, Oper" der Wiener Linien zu finden ist, andichten. Der modernen Zeit trotzend steht sie stählern an der Schnellstraße, dem vom schnellen Vorbeirauschen der Benzindroschken ausgehenden Drang zur raschen Fortbewegung eisern widerstehend. Der traurige Blick des im runden Anlitz ihrer analogen Anzeige vermeintlich erkennbaren Gesichts spricht Bände: Sie ist eine der letzten ihrer Art und sich dessen nur allzu sehr bewusst. Der zu solch fantastischen Gedanken befähigte Betracher mag in der Welt seiner Vorstellung voranschreiten und somit überrascht zur Erkenntnis gelangen, dass die Waage unterhalb des Rundes eine metallene Krawatte zu tragen scheint, gleich dem schwarz tragenden Beiwohner eines Begräbnisses auf dem Zentralfriedhof. Doch so schnell der beunruhigende Gedanke gekommen ist, so schnell ist dieser wieder verflogen. Zum Kondolieren ist es noch zu früh.



"Werfen Sie eine Münze ein!"
Keck ragt unsere Personenwaage oberhalb der Stirn ein munteres Schild in die Höhe: "Wirf mir bitte eine Münze ein!" - ein solcher Kerkelingscher Solözismus lädt uns mit heiterem Lachen ein, die Geschichte voranzutreiben, wirft geradezu drängend die Frage auf, was denn geschehen wird, sobald einer der achtlos vorbeihastenden Passanten der Verlockung erlegen und eine abgewetzte 20 Cent Münze in den dafür vorgesehenen Schlitz geworfen hat. Die Regeln fachgerechter Benutzung werden nicht in schriftlicher Form am Rumpf des feinmechanischen Wunderwerks kundgetan und bleiben somit im Verborgenen, dennoch wäre es vorstellbar, dass nach dem Betreten - nur einzeln betreten! - des prominenten Podests eine Maschinerie in Gang gesetzt wird, die den Vergleich mit dem Schachtürken des Wolfgang von Kempelen nicht zu scheuen braucht.

<Dramatische Klaviermusik>

Nach schier endlos erscheinenden Sekunden kommt die flirrende Bewegung des metallenen Zeigers hinter dem Glas zum Erliegen, spöttisch grinsend verkünden die analogen Anzeigen das so gefürchtete Resultat: 120 Kilogramm! Wurde der Aufforderung einzelnen Betretens womöglich nicht Folge geleistet? Oder waren es letzten Endes doch Pizzazunge und lockender Zuckertrank des nur fünf kurze Schritte weit entfernt gelegenen Schnellimbisses, die nun Zeugnis kalorienreicher Kumpanei ablegen? Zu allem Verdruss ist der Wagemutige, welcher sich beim Betreten des Podests bereits auf Iwojima das Sternenbanner hissen sah, in seiner Ernüchterung ungeschützt den feixenden Blicken vorbeihuschender Zeitgenossen ausgesetzt. Die ersehnte Rettung naht in Form der mit quitschenden Bremsen zum Stehen kommenden Linie 62.

<Adagio>
 
Die roten Rücklichter des sich bereits in rascher Geschwindigkeit entfernenden Gelenktriebwagens des Typs Mannheim vermischen sich mit dem leuchtenden Rot des Sonnenuntergangs, dessen warme Strahlen am Metallkörper der nun wieder einsam dastehenden Personenwaage reflektieren. Der Zeiger ist erneut stumm gen Boden gerichtet. Dem Betrachter verbleibt es, sich nun verschämt einzugestehen, dass eine solch schicksalhafte Dramatik hervorzurufen dem kalten Glimmen nüchterner digitaler Anzeigen auf ewig verwehrt bleiben wird. Derartiges Werk ist allein der silbrig mäandrierenden Schönheit analoger Instrumente vorbehalten, dem nahe der Waage stehenden und wie ein Fremdkörper anmutenden Fahrkartenautomaten darob nicht vergönnt.

Dem Künstler B. hat sein Werk nicht das verhoffte Glück gebracht. Im Überschwang seiner Freude über das geschaffene Bildnis versäumte er die letzte Straßenbahn und musste alsdann zu Fuß den Heimweg in die ferne niederrheinische Heimat antreten.

 <Leichtes Geklimper, Klaviermusik verstummt>

20 Jahre Intelligence Crew

20 Jahre Intelligence Crew 

Nach aufwendiger Recherche ist es uns gelungen, den ehemaligen Besitzer des seit 1995 nicht mehr existenten und damals einzigen EDV-Ladengeschäfts eines seit 1975 eingemeindeten Vororts einer unbedeutenden niederrheinischen Großstadt aufzufinden. Rentner Erwin K. betreibt heute aus einem alten und in bereits abblätterndem Laubgrün lackierten DKW Schnellaster heraus eine Imbissbude auf dem Parkplatz neben der evangelischen Güterstation in Kalkar. Erwin K. ist einer der letzten Zeitzeugen, der die Anfänge der zu Recht so unbekannt gebliebenen Demogruppe Intelligence Crew hautnah miterleben durfte, und weiß uns zu berichten:

"Ja, Günter, bin gleich bei Dir, einen Moment, ich geb den Jungs gerad noch'n Interview. Wat soll ich sagen, dat Schnitzel Mailand kostet aber vierachtzich. N' Pilsken dabei?"

Wir weisen Erwin K. freundlich darauf hin, dass das von uns bestellte Schnitzel Mailand auf einem an der fettigen Rückwand des DKW prangenden und daher ohne Zutun von Klebeband haltendem Schild mit 4,20 Euro beworben wird. Der etwas untersetzte Imbissbudenbesitzer antwortet daraufhin schmunzelnd:
"Ach nee, da hab ich mich wohl wieder vertan. Kost vierachtzich. Ja, mit dem Computerladen, dat war ne schöne Zeit. Rechner im Ort an die ahnungslosen Kleinbetriebe verkloppt, bis Escom, Vobis und Comtech in der Innenstadt die Preise kaputtmachten. Da war vorbei."

Wie hat er die Zeit erlebt, als die beiden neunzehnjährigen Abiturienten, die man heute selbst unter ihren Alias Slartibartfast und Blastermaster nicht mehr kennt, schüchtern seinen Laden betraten, um ihm die auf einer Diskette mitgebrachte IC-Demo anzubieten.
"Hörn'se, da standen eines Tages, war wohl so September 94, die beiden Typen da im Laden. Der eine war so'n Unrasierter, der trug'n Iron Maiden-Shirt und kaputte Jeans. Der andere war so'n bisschen ruhiger Pummeliger mit Brille, dem wohl noch die Mutter die Klamotten kaufte. Kann ich nich' haben, sowas. Und dann der bescheuerte Name von die beiden, irgendwas mit Intelligenz! Haha! Drückten mir die Diskette in die Hand, wär'n Demo drauf oder sowas, sollte ich vorne im Fenster zeigen. Die war'n darauf echt stolz, aber ich hab da eh nich' reingeguckt. Die ham was von Assembly in Helsinki und so erzählt, aber wat hab ich denn mit Thailand zu tun?"

Mit einem wissenden Lächeln versuchen wir uns vorzustellen, dass dieser unscheinbare Imbissbudenbesitzer damals den Lauf der Geschichte hätte ändern können, wenn er den bescheidenen Wunsch der beiden Hobbyprogrammierer erhört hätte. Ob er hätte erahnen können, dass der so progressive Minimalismus der vergessenen IC-Demo heute in einem Atemzug mit Bauhaus und dem deutschen Werkbund genannt wird?

"Nee, is klar. Früher, also ganz früher, da war ich ja auch mal Koch. Also, wenn Ihr mal'n eingelechtes Schteg mit Zwiebel ham wollt, ruft einen Tag vorher an. Dann mach ich Euch dat so rischtig lecker."
Freundlich lächelnd lehnen wir das Angebot gedanklich ab und lassen unauffällig die Reste des Schnitzels Mailand sowie den dieses begleitenden und mit ein wenig Pommes Frites drapierten Berg Mayonnaise in den am DKW lehnenden blauen Müllsack verschwinden.

"Den einen Pummeligen, den hab ich dann vor ein paar Jahren da in Oberhausen auf'm Konzert von Iron Maiden gesehen. Wat aber mit dem anderen is, keine Ahnung, der war nich dabei."
Die Wege der beiden so enthusiastisch gestarteten Nerds der Intelligence Crew verloren sich nach 1994 alsbald in den Weiten der Arbeitswelt; in Weiten, wie sie bereits prophetisch das dreidimensionale Sternenfeld der bisher noch nie gepriesenen IC-Demo zeigte, während unter Einfluss von Tabakqualm und Gerstensaft entstandene Zeilen wie "Intel rules the world" in sanfter Bewegung im von Slartibartfast liebevoll in Deluxe Paint 2 gezeichneten Schriftfont über den unteren Rand des in 360 mal 480 Pixeln dargestellten VGA-Bildschirminhalts scrollten. 20 Jahre Intelligence Crew wollen gewürdigt werden.
"Hör mal, dat Bier kost aber zwofuffzich."
Hmm, auf dem Schild stehen 2 Euro für das kleine König Pilsener, geben wir mahnend zu bedenken. Rentner Erwin K. lächelt milde. Während er weiterhin seine karge Rente durch tatkräftigen Einsatz im Gastronomiebereich aufbessert, denken wir an die unsere Protagonisten aus der Demoszene, deren Teil zu werden ihnen nie vergönnt war. Was hätte alles passieren können, wäre das im 286er Maschinencode hastig programmierte Meisterwerk im unscheinbaren Schaufenster des kleinen Computerkrauters dargeboten worden. Wir werden es leider nie erfahren.
"So Günter, nu hab ich Zeit. Wieder Tschevapschischibrötchen mit nem Kurzen dabei?"